GTA Etappe 2: Von Varzo ins Val Anzasca
Tag 1: Samstag 31.7.21
Mit einer 8-tägigen Wanderung starten wir unsere nächste Etappe auf der Grande Traversata delle Alpi. Als wir an unserer Unterkunft in Varzo ankommen regnet es in strömen. Das bedeutet, dass wir Aperol, Wein und Bier in leichten Jacken und unter der Jalousie auf der Terrasse unseres Hotels einnehmen. Die Anfahrt war lang und weil wir morgen 1700 Hm Aufstieg haben, gehe ich früh ins Bett. Das Einschlafen funktioniert nicht wie erhofft: unter unserem Zimmer gab es eine Party mit echt guter Musik und weil es stark regnet, bat ich das Universum inständig um keinen Regen bei Aufbruch morgen. Hoffen wir das Beste!
Tag 2: Sonntag 1.8.21
Sofort nach dem Aufwachen gehe ich nach draußen auf den Balkon und kucke nach dem Wetter. Der Regen war durch – welch eine Freude! Juhu! Nach dem Frühstück verstauen wir übriges Gepäck im Auto und kommen von Varzo (568 Hm) aus zeitig los. Wir sind gespannt und aufgeregt, denn heute müssen wir 1700 Hm am Stück hoch gehen und ca. 700 Hm wieder runter. Der Weg ist sehr schön, er führt mal durch den Wald, mal über Wiesen mit vielen schönen Ausblicken und alten – zum Teil verfallenen – Alpen. Bis zum Passo di Variola (2252 Hm) kommen wir noch an einigen verlassenen Alpen vorbei. Als wir oben am Pass ankommen regnet es ein bisschen und wir beschließen nicht hier unsere Pause einzulegen, sondern etwas später. An der verlassenen Alpe Variola (1902 Hm) machen wir Rast und genießen diese wunderschöne, sehr einsame Gegend. Ein Traum! Außer zwei schnellen Schweizern werden wir bis zu unserem Tagesziel niemandem begegnen. Der Abstieg zum Rifugio Bernardo (1628 Hm) zieht sich und bis wir ankommen waren wir für heute inklusive kurzen Pausen zehn Stunden unterwegs. Es ist eine atemberaubend schöne und menschenleere Gegend. Diese wilde Stille zieht mich sofort in ihren Bann.
Tag 3: Montag 2.8.21
Hätten wir gewusst, was heute auf uns zu kommt – ich glaube, wir wären einfach nicht aufgestanden. Keiner hat Muskelkater und die Kopfschmerzen, die ich gestern hatte sind weg – zum Glück! Wir sind alle gut gelaunt und kommen um 8:00 Uhr los. Die veranschlagte Gehzeit für heute sind sieben Stunden und soviel vorweg: das haut hinten und vorne nicht hin! Unser Etappenziel heute ist Alpe Cheggio und bevor wir da ankommen, müssen wir durch die „Grüne Hölle“. Jetzt aber der Reihe nach.
Kurz nach dem Rif. San Bernardo kommt eine Kapelle und dort stehen: 5:45 Stunden Gehzeit bis zum Passo della Preja – unserem höchsten Punkt für heute mit 2327 Hm. Gelöst und noch Witze machend mit „unserem Zahnarzt“ dass das heute ja sein Tag sein muss, weil wir um den „Monte del Dente“ herum laufen, gehen wir entspannt los. Der Waldweg läuft höhenparallel am Berg entlang. Weich, sanft absteigend und mit kleineren Gegenanstiegen ist dieser Weg echt super zum einlaufen. Am Bivaccio E. Marigonda müssen wir den richtigen Weg erst finden, was etwas Zeit kostet. Und Andy schwärmt „Wir laufen von einer Wildnis in die nächste“. Eine kleine Weile später sehen Kurt und Martina ein Schild mit „Passo della Preja – 3:0 Stunden“. Und wir freuen uns – schließlich hatten wir ja Zeit gut gemacht! Dann kommen plötzlich nur noch Schilder mit 3:15 Stunden Gehzeit bis zum Pass. Demotiviert aufgrund einiger 3:15-Schilder, schon länger unterwegs und mit dem Blick dorthin, wo wir den Pass erahnen, gebe ich an der Alpe Campo (1895 Hm) – wer möchte – eine Runde Schmerztabletten aus. Nach einer kurzen Pause geht es weiter und die Sportgruppe zieht los Richtung Pass. Christian und ich (Genussfraktion) schrauben uns langsam hoch. Es fängt zu nieseln an und wir müssen immer wieder den Weg suchen. Eine abgerutschte Grasnarbe, die wir an einem steilen Stück queren müssen, fordert kurz unsere Aufmerksamkeit. Am Pass angekommen sehen wir zu, dass wir weiterkommen. Das Wetter ist nicht der Hit und es zieht. Und als ob das nicht schon genug ist, kommt jetzt ein sehr langer steiler Abstieg.
An der Alpe della Preja (2083 Hm) müssen wir uns wieder orientieren. Das Gras ist hoch, also schwärmen wir aus und suchen nach Markierungen, die uns den Weg weisen. Jetzt geht der lange voll krasse Abstieg los und „der verreckte Steilhang“ (Zitat Christian) fordert unsere ganze (Rest-) Kraft, Konzentration und Motivation. Ich knall mir eine zweite Schmerztablette rein, weil ich die Knie merke. Und außerdem sehe ich es überhaupt nicht ein, unter Schmerzen diesen steilen, langen, abschüssigen Hang hinunter bis zum Stausee zu gehen. An der Alpe Teste Inferiore oder wie wir sagen „Inferno“ entscheiden wir uns für die im Buch empfohlene Alternative. Wir steigen durch den märchenhaften Lärchenwald ab zum Bacino dell’Alpe Cavalli o Cheggio und umgehen somit ein unter Umständen nasses, steiles Stück, wo auch noch Schneefelder liegen könnten. Endlich am Tagesziel angekommen können wir auch schon wieder lachen. Das geht eh schnell bei uns, weil „zerscht gibts immer erschd a Bier und dann schau mer mol“! Unsere Unterkunft liegt mitten im Dorf direkt gegenüber der kleinen Kirche. Heute waren wir 9,5 Stunden inkl. Pausen unterwegs und haben in etwa 900 Hm rauf und 900 Hm runter hinter uns. Wir werden großzügig mit typischer regionaler Küche verwöhnt und gehen dann alle früh zu Bett. Aber natürlich erst nach ein paar Litern Hauswein. Das Beste ist aber: jeder hat heute ein Doppelzimmer mit eigener Dusche/WC. Großartig!
Tag 4: Dienstag 3.8.21
Gemütlich abwärts laufen wir nach Antronapiana und kaufen heute schon die Lebensmittel für die Selbstversorgerhütte morgen Abend. Selbstverständlich nur so viel, wie wir brauchen. „Nur zum Überleben“ ist unser Motto, welches heute Abend noch erweitert wird. Dazu später mehr.
Unser Tagesziel ist die Alpe della Colma. Die Tour habe ich extra so geplant, dass wir auf dieser Alpe übernachten können. Zum einen nächtigen wir dann wenigstens einmal auf einem Bergkamm und können von dort aus in zwei Täler schauen (wenn das Wetter mit spielt) und zum anderen soll die Hütte allein schon ihrer Wirte wegen etwas ganz besonderes sein. Nachdem wir uns noch die Kirche in Antronapiana angeschaut haben laufen wir im Tal entlang bis es dann rechts steil (!) den Weg hinauf geht. Es geht sowas von hoch, dass ich mir zwischendurch denke, wir brauchen ein anderes Wort für „hoch“. Von 600 Hm bei San Pietro quälen wir uns hoch auf 1550 Hm zur Alpe Colma. Die Sportgruppe ist aus Christians und meinem Blickfeld verschwunden – war ja klar. Wobei die wiederum von den Bodenseemädels überholt werden. Wir – die Genussfraktion – machen eine kleine Pause an der verlassenen Alpe Prei – kurz vor unserem Ziel heute. Ich sitze also mit Christian so da, schaue ins Tal, genieße die Stille und find’s nur schön. Während wir warten bis der Nieselregen aufhört sagt er ganz ruhig zu mir: „Conny …(Pause) hier würd ich mich aufhängen. Hier is’ absolut nix los.“ Ich muss so laut loslachen, dass es rum war mit der Stille. Von hier aus sind es noch 25 Minuten bis zur Alpe Colma. Als wir ankommen spielt Olindo, der Wirt, mit unserem Andreas in der kleinen Stube Gitarre und es werden Oldies gesungen. Auch die Bodenseemädels sind da und wir alle geben uns heute ein neues Motto: „Sportler ist wer raucht und trinkt und trotzdem seine Leistung bringt.“
Heute lassen wir es krachen, das haben wir uns auch verdient. Patrizia und Olindo kochen für uns selbstgemachte Nudeln, die Olindo bei unserer Ankunft gemacht hat. Wie wir noch erfahren, war Olindo Musiker und wir bekommen ein so schönes Konzert auf einem Keybord irgendwo in den Bergen im wolkenverhangenen Piemont. Später singen wir alle noch Lieder und Andy begleitet mit der Gitarre. Die Stimmung ist großartig!
Aufgrund unserer Erfahrung (Zeit & Gehen) der letzten beiden Tage beschließen wir, morgen vor dem Frühstück um 6:30 aufzubrechen. Wir müssen nämlich über 1000 Hm runter und auf der anderen Seite wieder über 1000 Hm hinauf. Außerdem ist das Wetter zum Nachmittag hin regnerisch gemeldet, weswegen die Bodenseemädels ihre Tour ändern. Sonst wären sie morgen ebenfalls auf der Selbstversorger-Hütte über Nacht.
Tag 5: Mittwoch 4.8.21
Der Abstieg fängt traumhaft an und wird dann eine echte Tort(o)ur. Es ist steil und feucht und wir rutschen. Meine Bilanz sind eine halbe Rolle vorwärts und zwei Arschbomben! Die Anstrengungen sind schnell wieder vergessen als wir durch ein wunderschönes Dorf kommen: Olino (845 Hm). Dieses Dorf ist nur zu Fuß erreichbar. Für Autos gibt es eine schmale Straße und einen kleinen Parkplatz oberhalb des Dorfes. Wie schön waren die Ortschaften wohl früher ohne Autos! Ich beneide und bewundere die Einwohner von Olino, die hier noch leben. Wir gehen zügig weiter nach Molini – unserem Frühstücksziel. Endlich dort angekommen suchen wir die Locanda del Tiglio und fragen dort nach „der Lady“. Patrizia hat uns den Tipp gegeben, hier noch einmal nach dem Zustand des Weges und der Selbstversorger-Hütte zu fragen bevor wir uns in die „völlige Wildnis“ begeben. Die Lady sagt, der Weg zur Hütte ist in Ordnung und es ist Regen gemeldet. Ob Gas zum kochen oben ist und ob die Hütte offen ist, weiß sie allerdings nicht.
Wir stärken uns bei Kaffee und belegten Brötchen und diskutieren ein paar Minuten ob wir das Wagnis eingehen sollen. Natürlich gehen wir!
Gleich nach der Locanda überqueren wir auf einer Brücke einen Fluß. Dort steht die Wallfahrtskirche Madonna della Gurva auf einem Felsvorsprung. Der Weg schlängelt sich an einem Fluß entlang. Die tiefen Schluchten überqueren wir auf Brettern und Balken. Irgendwann geht es dann wieder steil durch einen Wald bergauf. Das Wetter hält sich noch und weil wir im Wald laufen spüren wir den langsam einsetzenden Regen kaum. Der Anstieg zieht sich. Als wir an der Alpe Camino ankommen, freue ich mich, weil wir die meisten Höhenmeter hinter uns haben. Doch bis zur Alpe del Lago (Selbstversorger-Hütte) zieht es sich noch ganz schön. Endlich sehe ich die Hütte mit den grünen Fensterläden! Und als ich die Kühe an der Hütte sehe freue ich mich, denn das heißt es muss irgendwo frisches Wasser geben. Als wir ankommen sind schon drei Leute da und es gibt ein kleines Durcheinander, was sich schnell wieder legt. Kurt und die Männer holen Holz und machen gleich Feuer im Ofen. Ich hole Wasser am Brunnen, damit wir später Kaffee und Tee genießen können. Es gibt keinen Strom und kein Licht. Wir sind irgendwo in einer Hütte an einem Fluß und draußen regnet es. Und als es dunkel wird holt uns der Wildnis-Romantik-Flash! Ich bin erleichtert, dass wir uns dafür entschieden haben diese lange Etappe bis Campello Monti (unser Ziel morgen Abend) zu gehen. Das war für mich nämlich die Schlüsselstelle der ganzen Wanderwoche: die einzige Selbstversorger-Hütte auf der ganzen GTA – wir haben Schlafplätze bekommen und alle haben es geschafft! Uff…
Tag 6: Donnerstag 5.8.21
Wir wachen sehr früh auf, waschen uns – ohne Seife und Shampoo natürlich – am Fluss (Wildnis-Romantik-Flash!) und entscheiden uns dann sofort und ohne Frühstück aufzubrechen. Mit dieser sehr besonderen Erfahrung im Gepäck starten wir in den letzten Wandertag. Dieser Abschnitt strengt uns alle sehr an und wir merken, dass diese sehr lange Etappe oft ausgelassen wird. Der Weg ist zugewachsen mit Heidelbeerbüschen und Farnen. Dazu kommen die Nässe vom Regen gestern, die rutschigen Wurzeln und der zum Teil schräge leicht abschüssige Weg. Immer wieder müssen wir uns orientieren und prüfen, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind. Die Heidelbeeren die wir am Weg pflücken sind da nur ein kleiner Trost. Nach einer kurzen Pause am Biwak Alpe Pian Lago müssen wir uns noch einmal richtig konzentrieren. Aber dann! Wir kommen zum absolut traumhaften Aussichtspunkt auf einem Bergrücken in 1881 Hm (nahe La Balma).
Von dort aus (360° Bilderbuch-Panorama) erblicken wir mit Weissmies, Täschhorn und Dom die Schweizer 4000er auf der einen Seite, das Val Grande – dem größten Wildnisgebiet der Alpen – direkt vor unseren Füßen und auf der anderen Seite sehen wir den westlichen Alpenbogen Richtung Turin. Man kann sich wirklich gut vorstellen, dass „da hinten“ das Mittelmeer ist – unser Tourenendziel in ein paar Jahren. Das „Meeresrauschen“ vom Wildbach im Tal unterstreicht diese Phantasie. Es ist warm und wir haben endlich einmal einen wolkenlosen Himmel, damit wir die volle Aussicht auch genießen können. Bis zum Passo dell’ Usciolo (2037 Hm) ist der Weg ein Traum: Sonne, Blumenwiesen, Gräser, Zirben. Am Lago di Ravinella machen wir eine Pause bei den neugierigen Kühen und kühlen unsere Füße im Wasser. Bevor wir dann 700 Hm absteigen, gibt es am Pass oben einen „Kirchenschnaps“ vom Weiltinger Pfarrgarten, den Kurt extra mitgebracht hat. Dann: Campello Monti. Schon der Hinweg ist ein Traum und in den Ort bin ich sofort verknallt. Der letzte ganzjährige Bewohner des Dorfes ist 1980 als 86-jähriger verstorben. Auch hier können Autos nicht durch die Ortschaft fahren. Wir plaudern mit einem alten Mann und dürfen in sein Haus kommen. Dort kaufen wir bei seiner Frau selber gemachten Ziegenkäse. Sehr arm, doch nicht ungemütlich wie die beiden leben. An unserer Unterkunft angekommen gibt es, wie soll es anders ein „zerscht a Bier“ und dann eine kleine Überraschung für die Gruppe: Einzel- und Doppelzimmer mit eigener Dusche/WC. Ein Traum nach der Selbstversorger-Hütte! Den eigentlichen Traum bekommen wir jedoch am Abend serviert: das Essen von Elvira! Heute läufts und wir sind stolz – denn wir haben so viel Höhenmeter gemacht, dass wir nach dieser zweiten Etappe quasi den Mount Everest bestiegen haben. Und nach dem x-ten selbst gemachten Schnaps von Elvira können wir sogar alle italienisch!
Tag 7: Freitag 6.8.21
Das Frühstück ist reichlich und wir genießen unseren letzten Tag in den Bergen. Der Abschied ist herzlich und wir haben uns schon für 2022 als Start der nächsten GTA-Etappe hier eingebucht. Es ist sonnig und der Weg nach Forno läuft am Fluss entlang. An einer schönen Stelle bietet sich eine Bademöglichkeit, die wir sofort nutzen. Ist ja klar! Wir lassen uns auf der Wiese von der Sonne trocknen bevor wir entspannt weiter gehen. Verlassene Dörfer, schöner Weg, volle Sonne… bestens gelaunt kommen wir in Forno an. Hier warten wir an einer Bar bei Bier, Wein, Radler und Vesper (Nur zum Überleben!) auf den Bus, der uns nach Domodossola bringt. Dort verbringen wir noch einen schönen Abend auf der Piazza bei einer lauen Sommernacht bevor es dann am nächsten Tag nach Hause geht.
Bericht GTA – Grande Traversata delle Alpi
Conny Schmidt August 2021